Güterverkehr bei der DR-Ost und Auswirkungen auf Anlagenplanung und -betrieb

13.07.2024 12:17 (zuletzt bearbeitet: 13.07.2024 12:23)
#1 Güterverkehr bei der DR-Ost und Auswirkungen auf Anlagenplanung und -betrieb
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Hallo Anlagenplaner,

jüngst stolperte ich in einem anderen Modellbahnforum über eine Anlagenplanung nach Vorbild der DDR-Reichsbahn. Die Wahl dieses Vorbilds wurde u. a. damit begründet dass die Eisenbahn in der DDR eine wesentlich größere Rolle gespielt habe als in der alten Bundesrepublik und, als das im Westen schon weitgehend „weg“ war, immer noch einen intensiven Güterverkehr mit Stückgut, Umschlag an der Ladestraße und Bedienung von Anschlussgleisen abwickelte – eine Art „heile Eisenbahnwelt“.

Das ist jetzt nicht völlig falsch, aber es scheint heute wenig bekannt zu sein dass die DR-Ost ihren Güterverkehr viel früher und erheblich radikaler rationalisierte als die DB, und das hatte erhebliche Auswirkungen auf Infrastruktur und Betriebsabläufe. Für Anlagenplaner die ein DR-Vorbild bearbeiten lohnt es sich vielleicht diese Hintergründe zu kennen.

Mitte der 90er unternahm ich (im Bundesbahnland aufgewachsen und „sozialisiert“) mit dem Wochenendticket meine ersten Expeditonen ins Reichsbahnland, zunächst nach Sachsen-Anhalt und MeckPomm, und war fasziniert! Es gab noch ein sehr dichtes Nebenbahnnetz, massenhaft alte Stellwerkstechnik, besetzte Bahnhöfe, urige Betriebsabläufe. Nicht alles war rosig (der Güterverkehr war 1990 in großen Teilen zusammengebrochen), trotzdem konnte man den Eindruck einer noch viel „kompletteren“ Eisenbahn als im Westen bekommen. Aber eins fiel mir schon auf den ersten Touren auf: etliche kleinere Bahnhöfe an Haupt- und Nebenbahnen hatten zwar immer noch Kreuzungsgleise, Stellwerke, viel Personal, Bw-Aussenstellen – aber gar keine Ortsgüteranlage mehr! Man konnte zwar erkennen wo die früher lagen, aber die Gleise waren weg, die Güterschuppen Ruinen, die Laderampen baufällig. Das kannte ich aus dem Westen so nicht! Bei der Bundesbahn war der Güterverkehr in der Fläche zwar auch seit Jahrzehnten auf dem schleichenden Rückzug, aber hier konnte man klar erkennen dass die entsprechenden Anlagen schon Jahrzehnte nicht mehr benutzt und weitgehend rückgebaut waren, was ich mir damals gar nicht erklären konnte.

Die Antwort fand ich erst viel später in der Literatur. Die DR-Ost musste Zeit ihres Lebens den Mangel verwalten, denn es gab von allem zu wenig: Loks, Güterwagen, Personal, zweite Streckengleise... Schon die Folgen des 2. Weltkriegs (Demontagen und Reparationen für die UdSSR bis weit in die 50er, kein vom Westen geförderter Wiederaufbau) hatten für erheblich miesere Startbedingungen gesorgt, und der Mangel wurde im Laufe der DDR-Geschichte immer schlimmer (laufend steigendes Transportaufkommen, Modernisierungsrückstand in Rangierbahnhöfen und Stellwerken, schleppende Elektrifizierung, schließlich gravierender Arbeitskräftemangel).

Die DR-Ost führte jeden Tag einen aussichtslosen Kampf das Verkehrsaufkommen, gerade im Güterverkehr, irgendwie zu bewältigen. Um das irgendwie hinzukriegen war man gezwungen zu rationalisieren: ein Schlagwort der DDR hierfür war „Intensivierung der Arbeit“, also nicht viel neues zu bauen sondern das vorhandene intensiver und rationeller zu nutzen. Ein Klassiker waren die Bedienungszeiten im Güterverkehr: die DB konnte es sich leisten Wagenladungen meist morgens zuzustellen, dem Kunden dann eine achtstündige Ladefrist zu normalen Geschäftszeiten einzuräumen und die Wagen nach Feierabend abzuholen – oder auch erst am Folgetag oder nach dem Wochenende. Bei der DR-Ost kam der Nahgüterzug „irgendwann“, so wie es Fahr- und Umlaufpläne zuließen. Gerne auch Wagenzustellung um 22.00 Uhr mit Ladefrist bis 6.00 Uhr früh, sogar am Wochenende, wofür viele Betriebe „Entladebereitschaften“ unterhielten. Bei der Selketalbahn etwa wurde in den 50er und 60er Jahren der Güterverkehr weitgehend nachts abgewickelt – im Westen undenkbar und auch unnötig, da war auf den meisten Nebenbahnen nachts Betriebsruhe.

Aber das alleine nutzte noch nicht viel. Insbesondere das kleinteilige Geschäft auf kleinen Bahnhöfen brachte wenig Verkehr, verursachte aber hohen Aufwand. Einzige Lösung dem beizukommen war konsequente Rationalisierung:

- Bereits 1961 wurden von den bis dahin rund 3.000 schienenbedienten Stückgutbahnhöfen 1.500 geschlossen und von den verbliebenden mit LKW bedient.

- Einige Jahre später konzentrierte man den Wagenladungsverkehr ähnlich auf „Wagenladungsknoten“ in denen dann zentral – oft für einen ganzen Landkreis – der Umschlag erfolgte. Diese Knoten wurden dann oft gezielt ausgebaut mit zusätzlichen Ladegleisen und Umschlageinrichtungen (Krane, Förderbänder...). Auf vielen Bahnhöfen wurde das Ladestraßengeschäft von den Bäuerlichen Handelsgenossenschaften übernommen die das dann – gegen Entgelt – auch für andere Kunden durchführten.

- Und es ging weiter. Ein erheblicher Teil des Wagenladungsverkehrs war (Braun-)Kohle für Hausbrandversorgung und Gewerbe. Dafür bildete man 170 „Kohleknoten“ die dann mit Ganzzügen anstelle von Einzelwagen versorgt wurden. Und für die Düngelmittellogistik entstanden die Agrochemischen Zentren (ACZ) mit ihren gigantischen Siloanlagen, ebenfalls mit Ganzzügen versorgt. Bereits Mitte der 1960er verblieben in der DDR lediglich 750 Bahnhöfe (von einst 4.900) als Ziele im Wagenladungsverkehr.

- Als letztes waren auch die Anschlussgleise dran: etwa 1.400 Anschlussbahnen (rund 30%) wurden stillgelegt, auf den verbliebenen bemühte man sich möglichst viel Verkehr mit Ganzzügen anstelle von Einzelwagen abzuwickeln.

Diese Maßnahmen hatten natürlich mannigfaltige Auswirkungen auf die Gestalt der Infrastruktur. Ortsgüteranlagen kleiner Bahnhöfe wurden stillgelegt, die Gleise dann auch recht konsequent abgebaut zur anderweitigen Verwendung. Die verbleibenden „Knoten“ baute man großzügig aus mit erweiterten Kapazitäten und Ladehilfen (Krane, Förderbänder, Schüttgutrampen...). Auch der Betrieb änderte sich: die Ng hatten weniger Rangieraufenthalte auf kleinen Bahnhöfen, dafür wurden die neuen Knoten oft mehrmals am Tag (oder in der Nacht) bedient. Und so einige Nebenbahnen hatten 1990 zwar noch intensiven Personenverkehr, aber überhaupt keinen Güterverkehr mehr (was zu der Zeit im Westen noch recht selten vorkam).

Schön zu sehen sind die Auswirkungen an den bekannten Schmalspurbahnen: die Harzquerbahn etwa hatte ursprünglich auf allen Bahnhöfen Ortsgüteranlagen mit Güterschuppen, Ladestraße usw., aber schon um 1965 verblieben davon nur 1. die Bedienung der Anschlüsse im Vorortbereich von Nordhausen und Wernigerode sowie 2. Benneckenstein als einziger Wagenladungsknoten (sowie, bis 1986, der Bahnhof Brocken zur Versorgung der Grenztruppen). Alles andere, die schönen Ladestraßen und Güterschuppen in Drei Annen Hohne oder Elend, die Holzladestellen wie Allerbach, Anschlussgleise zu Steinbrüchen – das war alles überflüssig. Oder die Weißeritztalbahn Freital-Hainsberg - Kurort Kipsdorf: dort gab es zwar bis 1994 Güterverkehr, aber der beschränkte sich seit etwa 1971 auf den "Wagenladungsknoten" Dippoldiswalde und zwei Großanschließer (Eisenhüttenwerk und Schrotthändler) in Schmiedeberg. Alles andere war tot und größtenteils rückgebaut.

Der Güterverkehr der DR-Ost durchlief also einen ähnlichen Wandel wie bei der Bundesbahn. Nur: im Westen war das ein langsamer, jahrzehntelanger Prozess der so richtig auch erst in den 90ern und dann ganz heftig 2001 mit „Mora C“ durchschlug. Die DR-Ost machte das viel früher und konsequente, und deshalb waren die entsprechenden Anlagen bei meinen Expeditionen schon lange „weg“.

Das alles soll keine Argumentation sein als Modellbahner kein DR-Vorbild zu wählen – nur zu, das war eine spannende Eisenbahn! Aber ganz so heil wie oft behauptet war die Eisenbahnwelt auch im Osten nicht. Solche historischen Randbedingungen sollte der Anlagenplaner im Hinterkopf haben.

Viele Grüße,
Sebastian

@Moderation: Ich finde schon dass dieses Thema in einem Planungsforum nützlich sein könnte, tue mich aber mit der Wahl des richtigen Unterforums schwer. Erst mal wähle ich "betriebsbezogene Überlegungen im Zusammenhang mit Anlagenplanung", falls es anderswo besser passt verschiebt gerne!


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13.07.2024 18:09
#2 RE: Güterverkehr bei der DR-Ost und Auswirkungen auf Anlagenplanung und -betrieb
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Ein dünnes "Gefällt mir" ist zu wenig für Deinen Text - großartige historische Erklärung - !

H.M.


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14.07.2024 14:12
#3 RE: Güterverkehr bei der DR-Ost und Auswirkungen auf Anlagenplanung und -betrieb
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So ganz kann ich den Inhalt oben nicht anschließen! Ich hätte auch gerne ein paar Quellenangaben zu den Aussagen!
Ist jetzt ein West-NE besser als eine DR-Ost Schmalspurbahn?!
Eine schöne Übersicht der Entwicklung des Güterverkehrs in Deutschland seit 1945 findet man in Nostalgie des Eisenbahngüterverkehrs

Grüße Hubert

"Sir, we are surrounded!" - "Perfect, so now we can attack in every direction!"

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14.07.2024 17:11 (zuletzt bearbeitet: 14.07.2024 17:41)
#4 RE: Güterverkehr bei der DR-Ost und Auswirkungen auf Anlagenplanung und -betrieb
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Hallo Hubert,

Zitat von Pfalzbahn im Beitrag #3
So ganz kann ich den Inhalt oben nicht anschließen!


wo genau kannst du dich nicht anschließen?

Zitat von Pfalzbahn im Beitrag #3
Ich hätte auch gerne ein paar Quellenangaben zu den Aussagen!


Gerne: einmal habe ich verschiedene Jahrgänge der DR-Zeitschrift "Fahrt frei" ausgewertet. Eine schöne zusammenfassende Darstellung bietet das Buch (verschiedene Autoren, u. a. Wolf-Dietger Machel) "Eisenbahn in der DDR - Die Deutsche Reichsbahn 1945-1990", GeraMond 2006. Die Zahlenangaben zur Rationalisierung sind größtenteils dort dem Kapitel "Kampf um die Güterwagen - Der Güterverkehr in der DDR", S. 37-42 entnommen.

Die Angaben zur frühzeitigen Rationalisierung, zu Wagenladungsknoten usw. und dem Rückbau nicht mehr benötigter Infrastruktur ziehen sich durch etliche Streckenmonographien.
Spontan bei mir im Regal:

Kühn/Huwe: Die Salzwedeler Kleinbahnen, Verlag Dirk Endisch 2006
Kuhlmann: Die Müglitztalbahn Heidenau - Altenberg, Böttger 2012
Menzel: Die Brandenburgische Städtebahn, Transpress
Hengst: Maßstäbliche Gleispläne und Hochbauten sächsischer Schmalspurbahnen, Bufe 1993

Danke für den Link auf "Nostalgie des Eisenbahngüterverkehrs"! Was dort zur DR steht hatte ich noch gar nicht gelesen, aber auf den Seiten 62-65 wird ausführlich auf das Thema Rationalisierung eingegangen. Dietmar Möller leitet seine Erkenntnisse überwiegend aus den Tarifwerken ab und geht jetzt weniger auf Infrastruktur und Betrieb ein, aber seine Zahlen etwa zu quantitativen Entwicklung der Güterverkehrsstellen ergänzen meinen ersten Beitrag sehr anschaulich mit harten Zahlen und Fakten - auch später als in dem von mir zitierten Zeitraum. Unter anderem ging die Zahl der Stückgutbahnhöfe von 2708 (Ende 1963, da waren schon viele weg) auf nur noch 235 (Ende 1975) zurück.
"Ganz extrem war der Rückgang bei den Güterverkehrstellen mit Abfertigungsbefugnissen für Stückgut nach der Umstellung auf das neue System. (...) Somit waren die Einschnitte im Stückgutverkehr der Deutschen Reichsbahn bei der Systemumstellung noch gravierender wie die beim Stückgutmodell 1000 der Deutschen Bundesbahn in den Jahren 1970 - 1971."

Zitat von Pfalzbahn im Beitrag #3
Ist jetzt ein West-NE besser als eine DR-Ost Schmalspurbahn?!


Nein, sicher nicht, nur anders. Ich hoffe du hast jetzt keine "Abwertung" von DR-Vorbildern rausgelesen?

Grüße,
Sebastian


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15.07.2024 18:37
#5 RE: Güterverkehr bei der DR-Ost und Auswirkungen auf Anlagenplanung und -betrieb
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Auch von mir

eine ganz große -Tafel für diese Abhandlung! Das mit den großen ACZ war mir bekannt, und auch die großzügigen Ladestraßenanlagen in einigen Bahnhöfen waren mir schon mal aufgefallen.
Aber fehlenden Ortsgüteranlagen waren mir noch nie ins Auge gefallen, und schon gar nicht hätte ich da diese Zusammenhänge hergestellt...
Ich würde jetzt mal behaupten, daß der Betrieb der Ostzonen-DR, dort wo der Platz war um ihn zu rationalisieren, durch all diese Maßnahmen deutlich weniger gut schrumpfbar geworden ist.
Was wir ja schätzen ist eine kleinteilige Bahn, nicht die Ganzzüge die drei mal so lang sind wie der Keller, sondern Strecken die zwei oder gar drei rangierende Nahgüterzüge aufwiesen. Man landet also fast zwangsläufig in den Mittelgebirgen, wo der Platz für große Neuanlagen fehlte und die Strecken steil und die Züge eh kürzer waren.
Die mit dem Thüringer Wald im Keller sind also recht fein raus, aber der Kleinbahnromantiker in der Altmark muss schauen, daß er sich nicht entweder in den Kitsch abdriftet, oder Düngerzug-Karikaturen zu ACZen schickt, die in 1:250 statt 1:87 dastehen...

Gruß
Alex


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